Rezension: “Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person” von Detlev Claussen

Flo 13. April 2016
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Der FC Bayern München hat ja dem Vernehmen nach die sprichwörtlichen Halbfinaltickets schon gebucht, seitdem ihm das Königsklassenfallobst Benfica Lissabon zugelost wurde. Klar, es hätte mit Real Madrid oder dem CF Barcelona auch zweifelsohne höherkarätige Gegner geben können, aber das zähe 1:0 im Hinspiel gegen den portugiesischen Underdog hat noch einmal deutlich gemacht, dass es auf diesem Niveau keine Selbstläufer gibt.

Die beiden spanischen Clubs werden dazu noch allzu gut wissen, dass man insbesondere Benfica Lissabon niemals unterschätzen sollte, haben doch historische Vorläufer der heutigen Starensembles in den Jahren 1961 (Barcelona) und 1962 (Madrid) gegen genau diesen Verein im Finale der Landesmeister verloren. Mann an Benficas Seitenlinie damals: Die Trainerlegende Béla Guttmann (1899-1981).

Grund genug für uns, Detlev Claussens wunderbares Buch Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person (2006) hervorzukramen, um mehr über diesen Mann und seine Geschichte vor, mit und nach Benfica zu erfahren. Und nebenbei einiges über das 20. Jahrhundert auf und neben dem Fußballplatz zu lernen.

Ausgehend von Guttmanns größten Triumphen in den Europapokalendspielen 1961 und 1962 erzählt der Werder-Fan, Kultursoziologe und Kenner des internationalen Fußballs Claussen anhand von Béla Guttmanns Biographie eine soziologisch gefärbte Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts durch das Brennglas des sich entwickelnden Millionenphänomens Fußball.

Dabei erweist sich die biographische Klammer als notwendiger Glücksfall: Für einen Menschen, der eher mit van Basten und Beckham als di Stefano und Puskas aufgewachsen ist, würde die schier unüberblickbare Anzahl an historischen Namen, Vereinen und Spielen ohne die Konzentration auf Guttmann doch zu überwältigend sein und letztlich nur noch verwirren. Durch die Konzentration auf Guttmanns Vita gelingt es dem Buch aber ganz wunderbar, ein wenig Licht ins historische Dunkel und vor allen Dingen ganz viel Lust auf die Beschäftigung mit dem Fußball vor dem heutigen Millionengeschäft zu wecken.

Guttmann ist dabei in der Erzählung sowohl exemplarisch als auch singulär zu verstehen. Niemals wird die Beispielhaftigkeit des Spielers der 20er und 30er und Trainers der 50er und 60er überstrapaziert, sondern stets sinnvoll in Bezug gesetzt zu den großen und kleinen Entwicklungen des schönen Spiels zwischen 1920 und den Europacupfinals von 1961 und 1962.

Dabei geht Claussen wie eingangs erwähnt von Guttmanns größtem Triumphen aus und kehrt auch immer wieder dahin zurück, um seine Geschichte zu schreiben. Dankenswerterweise begeht er dabei nicht den beliebten Fehler, Geschichte rückwärts als kausal immer auf ein bestimmtes Ereignis hinführende Entwicklung zu lesen. Vielmehr vollzieht er Schritt um Schritt, Station um Station sorgfältig nach, und zeigt dabei einleuchtend auf, wie sich die bruchstückhafte Aneinanderreihung von Verbindungen und Entscheidungen zu einem Fußballerleben verbinden, wie sich dieses Fußballerleben zur Entwicklung innerhalb der Sportart verhielt und wie es teilweise auch prominent dazu beitrug, was im globalen Fußball passierte.

Der Wandervogel Guttmann (8 Stationen als Spieler, 25 als Trainer) bezeichnete sich gerne als “internationaler Fachmann ohne Klubfanatismus”; und in der Tat zeigt Claussen immer wieder auf, dass das oft reflexhaft bedauerte Söldnertum von Fußballprofis nicht nur negativ und schon gar nicht als radikal neue Erscheinung der letzten Jahrzehnte zu lesen ist. “Klubwechsel von Spielern und Trainern werden bis heute von Medien und Zuschauern immer wieder als Treulosigkeit und Verrat angeprangert und auch tatsächlich als solche empfunden. Es sind aber gerade die Veränderungen, die erst das gegenseitige Lernen voneinander und die Belebung traditioneller Spielkulturen ermöglichen” schreibt er an einer Stelle und beschreibt in der Folge überzeugend, wie das zunächst kontinentale, später dann zunehmend globale Fußballgeschäft gerade durch die lediglich temporäre Identifikation und häufige Fluktuation von Spielern und Trainern den Fußball immer weiter verbesserten und verfeinerten. Um es mit der für Guttmann immer wieder zentral werdenden Stadt Wien zu sagen: Die Melange macht es.

Spannend ist dabei nicht nur Claussens Darstellung der Rolle, die Guttmann als Spieler und Trainer in der Entwicklung von offensivem Fußball gespielt hat, sondern auch und insbesondere die These, dass es Guttmanns kurze Station in Sao Paolo (1957-58) war, die maßgeblich dazu beitrug, dass die Selecao 1958 durch die ‘Zugabe’ europäischer Effektivität und der Entwicklung des 4-2-4-Systems zum ersten Mal Weltmeister werden konnte. Darüberhinaus war es auch diese Station, die den Brückenschlag zwischen brasilianischem und europäischem Fußball in umgekehrter Richtung etablierte und so den Grundstein legte für Guttmanns eigene Triumphe, aber auch indirekte Inspiration bot für die Entwicklung des revolutionären voetball totaal durch eben jene Spieler und Trainer von Ajax, die 1962 im Amsterdamer Stadion der ebenso unentwegt wie überlegt angreifenden Mannschaft von Benfica zuschauten.

Béla Guttmann war ungarischer Jude, der im auslaufenden k.u.k.-Reich groß und Fußballer wurde, und was seine gesellschaftliche Außenseiterstellung in einer von Antisemitismus und Klassendünkel geprägten Epoche mit der Entwicklung von Professionalismus im Fußball und Guttmanns lebenslanger Vorliebe für Offensivfußball zu tun hat, ist ein Leithema des Buches. Guttmanns “Utopie vom Fußball als Beruf” ist dabei zentral zu setzen für seine lebenslange Maxime, (fast) niemals länger als zwei Jahre beim selben Verein zu bleiben. Schon die Anfänge in Wien und Budapest zeigen eindringlich auf, wie sich der Fußball von pseudoaristokratischen Strukturen befreite und geöffnet wurde für gesellschaftliche Schichten, die sich schon bald ein Einkommen vom Sport erhofften. Diese allmählichen Professionalisierungsschübe und die Befreiung vom Scheinamateurismus sind dabei Hauptthema der ersten Hälfte des Buchs, das auch anhand von Guttmanns Stationen in den USA schön herausarbeitet, wie sich der Weltfußball aus den anfänglichen Amateurstrukturen herausschälte.

Obwohl dem deutschen Fußball nur eine Nebenrolle im Buch zukommt, wird anhand dieser Ausführungen auch immer wieder eindringlich klar, welch rückständige Rolle Deutschland innerhalb dieser Entwicklung spielte, als es vergleichsweise lange an Amateur- und Halbprofistrukturen festhielt. Denn so sehr man auch bedauern mag, welche Rolle der Kommerz im heutigen Fußball spielt: Ganz ohne kapitalistische Strukturen wäre der Fußball ein Sport geblieben, den sich nur die wohlhabenden und tonangebenden Schichten einer Gesellschaft widmen können und niemals die jüdischen, dunkelhäutigen oder der Arbeiterklasse entstammenden Fußballer, die diesem Sport letztlich zum globalen Durchbruch verholfen haben.

Dies zeigt Claussens Biographie von Guttmann ebenso schön auf wie die historische Zirkularität vieler scheinbar so zeitgebundener Phänomene. So muss man oftmals unweigerlich an aktuelle Debatten und Personen denken, wenn man Guttmanns Leben nachvollzieht: Die einseitige Rücktrittsfreudigkeit eines Armin Veh, die projektartige Trainerarbeit eines Pep Guardiola, Jose Mourinhos kauziger Umgang mit Medienvertretern, alle haben in Guttmann einen Ahnen im Geiste. Und selbst die von Scholl & Co. vielgeschmähten “Laptop-Trainer” haben in Fitness- und Taktikfuchs Guttmann einen historischen Vorgänger, der schon mit der Taktiktafel reüssierte, als in Deutschland noch Sekundärtugenden Anfang und Ende aller spielerischen Kniffe waren.

Doch auch Guttmann hatte mit dem Finale von 1962 seinen Zenit und wohl das letzte Mal seine Spieler erreicht, alles danach kannte zumindest sportlich nur noch eine Richtung. Auf dem Höhepunkt bei Benfica abgetreten, versuchte er es 1965 noch einmal in Lissabon und scheiterte dort ebenso wie an allen anderen Orten, wo er es bis zu seinem Karriereende 1973 noch versuchte. Auch hier sind die aktuellen Parallelen zu alternden Trainern, die erfolglos zu einstigen Erfolgsstationen zurückkehren (Veh) oder aber scheinbar den Draht zur aktuellen Spielergeneration verloren haben (Schaaf) augenfällig.

Am Schluss dieses ebenso reichhaltigen wie kurzweiligen Buchs legt der Soziologe Claussen dann nochmal eine wunderschöne Lesart des Offensivfußballs im Zeichen der gesellschaftlichen Teilhabe vor, die hier in voller Länge zitiert werden muss: “Fußball lebt von der Gegenwart des gespielten Augenblicks. Mit jedem Anstoß keimt die Hoffnung auf, dass etwas anderes eintreten wird als das Erwartete. Deswegen zieht der Fußball auch Kräfte an, die vom Spiel etwas anderes erwarten als die Bestätigung der etablierten Ordnung. Die Professionalisierung des Spiels hat es ermöglicht, dass immer mehr mitspielen können, die am Anfang nicht dazugehörten – Arbeiter, Juden, Immigranten, Abkömmlinge von Sklaven. Für sie ist der Fußball mehr als die wichtigste Nebensache der Welt; er verspricht ein anderes Leben. Der lebenslange Emigrant Béla Guttmann hat einen geschärften Blick entwickelt für das Potential der Außenseiter, das Etablierte ins Wanken zu bringen. So liest sich das Leben dieses Trainers wie ein wiederholter, systematisch geplanter Aufstand gegen die tödliche Herrschaft des Defensivfußballs”. Mit dieser ebenso steilen wie schönen Interpretation einer Sporttaktik schließt Claussen ein Buch, dass die globale Fußballgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Biographie Guttmanns auf gerade einmal 140 Seiten erzählt.

Zum Schluss noch eine Erkenntnis, die auch so manchem Defensivfuchs moderner Prägung gut tun würde: “Für Guttmann war 0:0 immer ein Spielstand gewesen, kein akzeptables Endergebnis” (125). Die Null musste bei Guttmann nicht stehen, sondern fallen – und nach der Lektüre seiner Biographie kann man gar nicht anders, als ihm unbedingt zuzustimmen. Leseempfehlung!

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