Interview: Detlev Claussen zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien

Flo 11. Juni 2014
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Morgen ist es soweit, vier Jahre nach Südafrika beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Viel hat man in den vergangenen Wochen und Monaten über das Gastgeberland gehört, gesehen und gelesen, weniges davon war positiv. Wir wagen einen kritischen und etwas fundierteren Blick mit der Hilfe des Soziologen Prof. Detlev Claussen.

Die Weltmeisterschaft in Brasilien ist nach der schändlichen WM 1978 im Argentinien der Militärjunta die erste Weltmeisterschaft auf südamerikanischem Boden und findet nun in einem demokratisch regierten Land statt, dass 2016 auch noch die Olympischen Spiele in Rio ausrichten wird. Ist die Ausrichtung solcher Sport-Megaevents aus Ihrer Sicht ein Gewinn für das Land, oder ist die Ansiedlung solcher Sportgroßveranstaltungen in einem Land wie Brasilien trotz der großen Euphorie für den Sport doch mehr Fluch als Segen für die dortige Bevölkerung?

Aus der Sicht eines Stehplatzhelden sieht man den Um- und Neubau der Stadien mit gemischten Gefühlen. Maracanã ist ein architektonisches Meisterwerk, das für die brasilianische Moderne der 50er Jahre steht. Zur WM wurde es nach den in Brasilien verhassten FIFA-Standards verdichtet und versitzplatzt; eine Tendenz, die den brasilianischen Fangewohnheiten entgegenläuft.Wenn ein Tor fällt, lieben sie es zu laufen—mit allem Drum und Dran, Fahnen, Bannern und Trommeln! Das geht nicht mehr, bei VIP-Logen und lauter Plastiksitzen … Dazu kommen die Preise, die mit dieser Art Gentrifizierung der Stadien steigen.

Der brasilianische Zuschauerfußball steckt in einer Klemme: auf der einen Seite findet eine Überfütterung der Zuschauer durch TV-Fußball statt, die Mittelschicht scheut die schwierigen Anfahrten in die veralteten Stadien, für die torcidas (die Fangruppen) wird der Stadionbesuch immer teurer. Ich war auch im neuen Stadion von Belo Horizonte. Es ist wunderschön, eine tolle Atmosphäre, Superakustik; da es bei einem Spitzenspiel nur halb voll war und die Sitzplatzreihen geräumig, konnten die torcidas beider Seiten die Tore angemessen bejubeln. Das Essen im Stadion ist sehr lokalspezifisch; die Brasilianer waren nicht bereit, das FIFA-gesponserte Einheitsfutter zu akzeptieren—anders als 2006 in Deutschland. Vor dem Obersten Gerichtshof haben die Frauen aus Bahia, die mein Lieblingsessen Acarajé (Chilikrabbenpasteten) kochen und verkaufen, nach langen Protesten erreicht, dass sie dort trotz der bestehende FIFA-Bannmeile für nicht-lizensierte Produkte ihr Essen verkaufen dürfen. In Deutschland wurde diese FIFA-Diktatur klaglos akzeptiert.

Die Mega-Events bringen die brasilianischen Probleme auf den Tisch, die Proteste sind ambivalent—manche sozial berechtigt, manche werden von Fußballfeinden aus der Mittelschicht instrumentalisiert. Es kommt darauf an, dass die Konflikte, die ans Tageslicht kommen, demokratisch ausgetragen und nicht in alter Manier einfach nur repressiv unterdrückt werden. Ökonomisch halte ich aus allen Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte den Effekt für gering. Aber eine WM ist eigentlich eine tolle Sache, war es für Südafrika auch; doch auch bei der EM in Portugal gab es totale Fehlinvestitionen: Leiria zum Beispiel. Das liegt an den Interessen der multinationalen Stadionbauer. Hier ist es Manaus. Aber in Qatar ist es der blanke Wahnsinn! Übrigens verdienen deutsche Firmen mit diesen Luftnummern ein Schweinegeld, es ist also kein Problem der Schwellenländer, sondern der internationalen Arbeitsteilung im globalisierten Kapitalismus. Auf diesem Globus sind FIFA und IOC Big Player; Mafias sui generis…

Nach dem scheinbaren Aufschwung der Lula-Jahre mehren sich unter der Rousseff-Regierung wieder Meldungen von sozialen Problemen und politischen Unruhen in Brasilien. Oder täuscht hier der medial vermittelte Blick aus dem fernen Europa?

Der Aufschwung ist nicht nur scheinbar. Die unteren Klassen sind durch ihn selbstbewusster geworden und stellen neue Forderungen: Buspreise, Gesundheit, Erziehung. Auf der anderen Seite gibt es in den Mittelklassen eine Art Demophobie, mit der die Proteste gegen die Rousseff-Präsidentschaft funktionalisiert werden sollen. Brasilien ist ein riesiges Land, das auf dem Weg von einer vorbürgerlichen Klassengesellschaft in die Hypermoderne ist. Alles gleichzeitig und nebeneinander—zwischen Megacities und barbarischer Landarmut, die eine ungeheure Binnenmigration erzeugt. Gewaltige ökologische Probleme werden durch forcierte Rohstoffextraktion und modernsten Agrarkapitalismus erzeugt; ein unersättlicher Energiebedarf ist die Folge—und für alles wird die Präsidentin verantwortlich gemacht, die aber gar nicht überall die Macht hat. Sie sitzt mitten in Brasilia, aber an allen Ecken des Landes und in den Küstenstädten regieren ganz andere Kräfte.

Über die Favelas wird in Brasilen und im Westen viel Quatsch erzählt. Das Medienwesen in Brasilien ist grausam; das Image der Favelas gehört zu einem “Klassenkampf von oben”. Die Favelas sind keine Ansammlung von faulen Taugenichtsen, sondern die Wohnorte der hart arbeitenden urbanen Bevölkerung. Sie leben in einer schwierigen Situation von niedrigen Einkommen, Perspektivlosigkeit der Jugend, einem knallharten Machtkampf zwischen Polizei und organisiertem Verbrechen, das sich aus einer entsprechenden Sozialstruktur rekrutiert, und einer aggressiven evangelikalen Rekrutierungspolitik. Die Favelas sind ein Ausdruck der brasilianischen Klassengesellschaft, er lässt sich durch polizeiliche Repression verschönern. Die brutalen Polizeiaktionen der letzten zwei Jahre sind kosmetische Massnahmen für die internationalen Eventbesucher, die am Zugang zu den Stadien das Elend nicht sehen sollen. Die obrigkeitsstaatliche “Pazifizierung” führt zu ganz neuen Problem – der “Gazaisierung” einiger stadtnaher Communities…

Sie waren in den letzten Jahren wiederholt selber in Brasilien – wie war Ihr persönlicher Eindruck in Bezug auf die Vorfreude/Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft?

Vielleicht wird es in Brasilien auf Grund der riesigen Schere in den Einkommen deutlicher als sonst auf der Welt. Fußball ist das Spiel des Volkes, das man den Oberklassen entrissen hat, die es einst bei Flu und Fla in den feinen Vierteln pflegten. Die brasilianische Mannschaft ist vielfarbig. Seit 1958 ist es so; die besten, nicht die mit den besten Beziehungen sollen spielen. Aber das Volk ist nicht dumm; es sieht den schreienden Widerspruch zwischen den Verbands- und Clubfunktionären und dem Anspruch, schöne Spiele sehen zu können. Alle wissen, dass das Elend nicht mit Herrn Blatter, einem Uhrenverkäufer aus der Schweiz, angefangen hat, sondern mit seinem Vorgänger Havelange, der aus einem senilen, aristokratisch angehauchten Altherrenclub namens FIFA eine immer wieder sprudelnde Geldquelle gemacht hat, aus der sich Leute bedienen können, die Mafiamethoden beherrschen, aber nicht einmal wissen, dass der Ball rund ist. Für dieses Missverhältnis ist ein gesellschaftliches Gespür in Brasilien da; eher stärker als in Europa…

Können der Soziologie Claussen und der Fußballfan dc die WM zu gleichen Teilen genießen?

Schöne Frage. Als Soziologe wie als Fan verfolge ich identische Ziele. Ich bin immer auf der Suche nach dem Weg zum besseren Leben. Der Fußball besitzt eine utopische Kraft. In jedem Spielanfang steckt die Hoffnung, es gäbe einen Moment, in dem alles gelingen kann, was man sich wünscht—vergleichbar nur mit einer perfekten Aufführung eines Musikstücks.
Paradox: Perfektion ist in einem mannschaftlichen Ballspiel unerreichbar, doch: “Wer immer strebend sich bemüht…” Goethe drückt nichts anderes aus als Diana Ross: “Keep on reaching the stars.”

Sagt es mehr über das Gastgeberland Brasilien oder über die europäisch-postkoloniale Arroganz aus, dass man fast täglich über nicht rechtzeitig fertig gestellte Stadien und andere organisatorische Probleme lesen kann?

Das ist vor jeder WM so. BILD sah 2006 Deutschland von ukrainischen Nutten bedroht, 2010 sollten alle Fans Opfer von schwarzen Kriminellen werden – alles die üblichen xenophoben, rassistischen Phantasien. Nichts von diesen Dummbeutelprognosen traf ein…

In Ihrem Buch Béla Guttmann – Weltgeschichte des Fußballs in einer Person (Rezension folgt auf stehplatzhelden.de, siehe auch Video unten) werfen Sie die These auf, dass der brasilianische “Jogo Bonito” im Ursprung europäische, genauer gesagt ungarische Wurzeln hat. Wie kam das?

Eine lange Geschichte, die ich versucht habe, in dem Guttmannbuch kurz darzustellen. Was Guttmann so bedeutend für Brasilien gemacht hat, war die Kombination von artistischer Spielkunst und Effektivität. Seine erste Maßnahme in Sao Paulo 1957 als Trainer war, drei Kreise an eine Wand zu malen. Dann knallte er drei Bälle jeweils in den Kreis und sagte, wie später Ernst Happel beim HSV: “Nachmachen”. Technische Qualität war ihm Voraussetzung; aber entscheidend war, aus den Fähigkeiten etwas zu machen—also die Qualitäten auch taktisch umzusetzen (den “wissenschaftlichen Fußball” brachte er aus dem Ungarn der unmittelbaren Nachkriegsperiode mit (apropos “Wunder von Bern”: war wirklich eines, gegen diesen sophisticated Fußball wirkten die teutonischen Weltmeister wie Biedermänner)). Die erste Weltmeisterschaft gewann Brasilien 1958 mit dem modernen 4-2-4 und einer effektiven Verteidigung, die man in Europa den Ballzauberern aus den Tropen nicht zugetraut hatte. Das sollte man auch in den nächsten Wochen im Auge behalten. Schauen Sie sich mal die brasilianische Defensive an…

Und nun zur Frage aller Fragen: Wer wird Weltmeister?

Wer Weltmeister wird, weiß ich nicht. Seit langem wünsche ich mir ein Finale Deutschland-Brasilien, weil mir die deutsche Mannschaft in den letzten Jahren gefällt. Sie ist besser als die Euromannschaft von 72…leider fehlen zwei meiner absoluten Lieblingsspieler Gündogan und Reus. Spanien ist zu alt. Wenn Brasil gewinnt, freue ich mich.

Detlev Claussen (*1948) ist Professor Emeritus für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. Nach seinem viel beachteten Buch Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie (2003) nahm er sich vor, über ein Thema zu schreiben, von dem er “garantiert mehr Ahnung als Adorno” hat. Der gelernte Torwart und bekennende Werder Bremen-Fan landete beim Fußball und der Trainerlegende Béla Guttmann, zu dem er 2006 das Buch Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person veröffentlichte. Auch sonst teilt er seine Meinung zum Fußball gerne mit anderen, so etwa in seiner “Frankfurter Fußballschule” auf faustkultur.de – und beweist dort nicht nur, dass er mehr Ahnung von Fußball als Adorno hat.