Handspiel bei Köln vs. Hannover 96: Kein Platz für Fairness im Profifußball

Tim 20. Oktober 2015
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Wir schreiben die 39. Minute im Heimspiel des 1.FC Kölns gegen Hannover 96 am letzten Wochenende – eine Minute nachdem Leon Andreasen den Ball mit dem Oberarm zum spielentscheidenden 1:0 für 96 über die Torlinie der Rheinstädter gedrückt hat. Das Stadion tobt. FC-Trainer Stöger bietet dem Schiedsrichter-Assistenten seine Brille wie sauer Bier an. Andreasen bespricht sich mit seinem Trainer Michael Frontzek an der Außenlinie. Und Schiedsrichter Bastian Dankert dämmert, dass er mit der Entscheidung, das Tor anzuerkennen, nicht ganz richtig gelegen hat. 

Andreasens Tor war ein irregulärer Treffer

Um es kurz zu machen: es war ein irregulärer Treffer, da der Däne den Arm “zur Vergrößerung seiner Körperfläche” und damit laut DFB-Regeln unerlaubt eingesetzt hat. Punkt. Mehr aber auch nicht. Von einem “grotesk irregulärem Tor” (Sky-Moderator) oder “Handskandaltor” (Bild) zu sprechen, entstammt dann wohl eher den Reflexen eines chronisch zur Skandalisierung neigenden Boulevardjournalismus.

„Der Schiri und sein Linienrichter hätten es noch nicht mal gesehen, wenn der Hannoveraner den Ball gefangen hätte. Für mich ist es absichtliches Handspiel und deshalb Rote Karte.”

Emotionale Reaktion von Toni Schumacher, Vizepräsident 1.FC Köln

Muss Andreasen sein Vergehen dem Schiri beichten?

Sofort nach der Führung für Hannover begannen die Diskussionen, ob es nicht fairer gewesen wäre, wenn der 96-Mittelfeldspieler zu Referee Dankert gegangen und sein Handspiel zugegeben hätte. “Bild” meinte sogar eine doppelte Unsportlichkeit erkannt zu haben, weil Andreasen nicht direkt zum Schiedsrichter lief und es auch dann nicht tat, nachdem er kurze Rücksprache mit Trainer Frontzeck an der Seitenlinie hielt. Das Boulevardblatt mutmaßte zugleich, der Däne sei vom Coach zur “Nicht-Beichte” aufgefordert worden.

Für alle Kölner Fans (verständlich) und alle Bundesliga-Gutmenschen war klar, dass Andreasen, wäre er ein echter Sportsmann, das Handspiel sofort hätte beichten und das Schirigespann den Treffer aberkennen sollen. Andreasen gab es zu, allerdings nach dem Spiel:

„Das war ein klares Handspiel. Ich hatte nur gespürt, dass mich etwas am Arm trifft, aber es ging alles sehr schnell.“

Leon Andreasen, Torschütze von Hannover 96

Marius Ebbers als schillerndes Vorbild

Für die Stammtischredaktionen von Boulevard und Pay-TV reichte das nicht, sie verwiesen auf Marius Ebbers vor drei Jahren. Der damalige St. Pauli-Profi erzielte gegen Union Berlin zehn Minuten vor Schluss unter Zuhilfenahme der Hand das viel umjubelte 2:1. Der Stürmer ging anschließend zum Schiedsrichter und gab sein Handspiel zu. Der Referee nahm darauf das Tor zurück und Ebbers bekam zur Auszeichnung seiner Ehrlichkeit am Ende der Saison den Fairplay-Preis verliehen. Kann Ebbers Aktion eine Blaupause für alle Profis in ähnlichen Situationen sein?

Moderner Fußball lässt kaum Platz für Sportsgeist

Wenn das Verhalten von Ebbers damals auch sehr löblich war, so geschah es doch unter grundsätzlich anderen Vorzeichen. Der Kiezclub war nicht Vorletzter und Ebbers stand auch nicht unter dem immensen Druck des Abstiegskampfs. So sehr man sich wünschen würde, dass die Aktion des damaligen Pauli-Stürmers die Regel im Bundesligaalltag ist, so sehr ist sie die Ausnahme.

Denn der enorme finanzielle und mediale Druck, der heutzutage auf den Spielern und sonstigen Club-Verantwortlichen lastet, lässt kaum Raum für Sportsgeist. Das Streben nach Triumphen und Preisgeldern einerseits sowie die drohenden negativen finanziellen und reputativen Folgen eines Abstiegs andererseits peitschen die Akteure voran. Die kurzfristige Perspektive scheint dabei alles andere zu überlagern und prägt die Entscheidungen von Spielern und Clubverantwortlichen.

Andreasen und auch Frontzeck steckten in diesem Dilemma. Mund halten, den Vorteil mitnehmen und am Ende auf drei Punkte hoffen? Oder das Handspiel freiwillig zugeben, am Saisonende den Fairplay-Preis einheimsen, aber dafür den Fall in die zweite Liga in Kauf nehmen? Eine Zwickmühle, aus der es für die Betroffenen eigentlich nur einen Ausweg gibt. Andreasen und Frontzeck haben ihn gewählt.

Im modernen Fußball bleibt leider kein Platz für Sportsgeist der alten Schule. Es zählt nur der kurzfristige Erfolg, nicht das, was langfristig aufgebaut werden könnte.

Spieler sind nur ihrem Verein Rechenschafft schuldig – auch bei klarem Handspiel

Wer dennoch meint, ein Spieler sei frei in seinen Entscheidungen und damit sein eigener Schmied in puncto fairem Verhalten, der irrt. Denn wie bitte soll ein Spieler sich gegenüber den eigenen Fans, Angestellten des Vereins und ihren Familien, den Sponsoren oder seinem Trainer rechtfertigen, wenn der Club um die Ligazugehörigkeit und seine Zukunft zittert, der Spieler aber ein erzieltes Tor freiwillig wieder herschenkt?

Wie umfassend ist “Fairness”?

Wenn man die Fairness-Keule schwingt, muss man auch fragen: wo beginnt Fairness, wo hört sie auf? Wenn wir von Profis fordern, ein unter Zuhilfenahme der Hand erzieltes Tor dem Schiedsrichter zu melden, was ist dann bei Schwalben, nicht geahndeten Fouls oder einem falsch gegebenen Einwurf? Auch diese können einem Akteur bzw. seiner Mannschaft irreguläre Vorteile verschaffen, mitunter spielentscheidende.

Fazit

Auch wenn sich der gemeine Fan im modernen Fußball nach Authentizität und Ehrlichkeit sehnt: Die Mechanismen im Profifußball lassen eine uneigennützige Verhaltensweise so gut wie nicht zu. Ein Spieler kann sich nur für den Vorteil zugunsten seines Vereins entscheiden – und sieht sich anschließend zwangsläufig dem Spießrutenlauf durch die aufgebrachten Sportmedien ausgesetzt.

Handtor von Diego Maradonna
Übrigens: Wie man das mediale Trommelfeuer nonchalant ins Leere laufen lässt und die Diskussion im Keim erstickt, konnte man von niemand geringerem als Diego Maradona lernen: Nachdem er bei der WM 1986 die “Hand Gottes” beschwor, krähte später kein Hahn mehr nach seinem Handtor gegen England.