Bundesliga ohne Fußball-Liveticker – ein Selbstversuch

Tim 6. Mai 2015
Fußball-Liveticker-App

Die aktuelle Rückrunde verlangt allen Hannover 96 Fans, zu denen auch ich gehöre, viel ab. Seit nunmehr 15 Spielen sind die Roten sieglos und von einem ordentlichen achten Platz nach der Hinrunde bis auf den 17. Platz der Tabelle durchgereicht worden. Wäre die Saison heute zu Ende, würde dies den Abstieg nach 13 Jahren Bundesliga am Stück bedeuten. Und dass, obwohl der Kader vermutlich zu den besseren neun der 18 Bundesligisten zählt und die Mannschaft größtenteils ordentliche, manchmal gute Spiele abliefert. Nur verhindert eine Mischung aus Pech (wie beim 1:2 Auswärtsspiel gegen den HSV), Unvermögen (das 0:4 in Leverkusen) und vor allem wohl Versagensangst (wie zuletzt beim 1:1 gegen Hertha oder 1:2 gegen Hoffenheim), dass die Mannschaft Ihre Qualitäten bis zum Schluss ausspielen kann. Am Ende zählt, was unter dem Strich steht – und da stehen bei 96 derzeit leider nur magere 30 Zähler. Für alle Fans des Hannoverschen Sportvereins von 1896 ist diese Rückrunde ein Martyrium. Woche für Woche zittern sie mit ihrem Verein, doch es gibt keine Erlösung. Am Ende stehen Mannschaft und Fans mit leeren Händen da, denn auch ein Pünktchen aus einem Unentschieden kann diese nicht wirklich füllen. Hinzu kommen die vielfach dramatischen Spielverläufe: 0:2 gegen Frankfurt hinten gelegen, noch auf 2:2 heran gekämpft. Nach 70 Minuten 1:0 zu Hause gegen Paderborn geführt, am Ende die drei Punkte leichtfertig aus der Hand gegeben und noch 1:2 verloren. Kein Wunder, wenn man am Ende der Saison ein paar mehr Grauhaarige auf Hannoverschen Straßen begegnen wird.

Mobile-Liveticker sind das Kokain des modernen Fußballfans

Verstärkt wird die psychische Qual durch Fußball-Liveticker auf Smartphones. Diese gibt es in vielfältiger Form: als eigene Apps oder mobile Websites, spezialisierte Liveticker-Angebote oder als Teil von Nachrichten-Diensten, mit Alert-Funktion oder ohne. Und selbst wenn man keinen Ticker geöffnet hat, so versorgt einen der “Trash Talk” der Freunde in der Whatsapp-Fußball-Gruppe mit den Ereignissen auf den Plätzen. Was all diese Liveticker gemein haben: sie verführen Fußballfans dazu, permanent zu prüfen, ob die eigene Lieblingsmannschaft nicht doch in den letzten 20 Sekunden ein Tor geschossen hat (was sie komischerweise nicht getan hat, meistens zumindest). Und wenn das wie im Falle von 96 seit 15 Spielen meist seltener als beim Gegner passiert, dann bedeutet dies permanentes Leiden. Der Dot-Com-Entrepreneur und Social-Media-Guru Gary Vaynerchuk sagte Ende Februar auf einem Kongress über Smartphones: “They are like crack cocaine!” Paart man sie mit Livetickern, potenziert sich das Übel.

Der Selbstversuch: Ein Bundesliga-Samstag ohne Liveticker

Ich war die quälenden Fußballnachmittage irgendwann satt. Nach durchschnittlich gefühlten 2.541 Klicks auf die Reload-Taste der von mir genutzten Liveticker-App war ich seit 15 Spielen am Ende nie schlauer: die Roten hatten wieder nicht gewonnen. Dennoch hatte ich jedes Mal 105 Minuten mitgezittert und mitgelitten. Um am Ende doch wieder enttäuscht zu sein. Damit sollte Schluss sein. Vergangenen Samstag hatte ich vor 15:30 Uhr nicht nur die Liveticker-App geschlossen, sondern auch noch die Push-Mitteilungen von Whatsapp deaktiviert. Nicht dass ich das Fußballstammtisch-Gequatsche über das Messanger-Programm nicht schätzen würde, aber auch aus Whatsapp wollte ich nichts von den Zwischenstände hören. Stattdessen vertraute ich meinem (zweck-)optimistischen Bauchgefühl und hoffte auf einen 4:1-Auswärtssieg von 96 im Niedersachsenderby beim VFL Wolfsburg. Wie auch sonst sollte dieses Spiel beim Tabellenzweiten ausgehen, wenn nicht mit einem klaren Sieg für Hannover. Ähem… Erst nach Abpfiff aller Samstagnachmittgspartien wollte ich einen Blick auf die dann in Stein gemeißelten Ergebnisse werfen.

Überraschende Erkenntnisse aus dem Livetticker-Boykott

Ich machte einige interessante Erfahrungen. Zum einen fühlte ich eine gewisse Vorfreude auf den 4:1-Sieg in Wolfsburg – und war er noch so unwahrscheinlich. Solange ich es nicht besser wusste, bestand zumindest theoretisch die Chance, dass es dazu kommen konnte. Zum anderen kam fast so etwas wie ein befreiendes Gefühl auf, nicht immer permanent auf den Liveticker gucken zu MÜSSEN. Da ich mir ja geschworen hatte, den Ticket nicht anzuschalten, konnte ich die Roten also gar nicht durch permanentes Reload-Klicken zum Sieg treiben. Diese Last war nun von meinen Schultern genommen. Angenehme Nebeneffekte stellten sich ebenso ein: der Familienausflug am Samstagnachmittag war auf einmal viel entspannter und die eigene Laune deutlich besser. Außerdem hatte man irgendwie auch mehr Zeit, sich um Dinge zu kümmern, die man sich schon länger vorgenommen hatte. Nebenbei blieb immer noch ausreichend Zeit, sich gedanklich auf den Moment des Blicks auf die Endergebnisse vorzubereiten, wenn statt eines spektakulären 4:1 dann wohl doch das wahrscheinlichere 0:3 zu Buche stand.

Große Spannung beim Blick auf die Endergebnisse

Fußball-Liveticker - VFL Wolfsburg gegen Hannover 96

Highlights des Spiels VFL Wolfsburg gegen Hannover 96 im Fußball-Liveticker

Am Ende meines Selbstversuchs kam es dann doch anders. Euphorisch nahm ich das 2:2 von 96 bei den hochgezüchteten Wölfen zur Kenntnis. Als ich dann noch sah, dass die Roten bereits zur Pause 0:2 hinten lagen und sich erst in der zweiten Hälfte das Unentschieden erkämpften, wusste ich, dass ich mir tatsächlich 105 Minuten Grämen, Hoffen und Bangen erspart hatte. Zusätzlich hätten mich die Spielverläufe auf Schalke (wo Abstiegskampfkonkurrent Stuttgart lange führte und erst in der Schlussminute das 3:2 für Schalke fiel) und in Freiburg (die Paderborn zu unverhofften drei Punkten verhalfen) zusätzlich um den Verstand gebracht. All das hatte ich mir nun glüklicherweise erspart und gleichzeitig noch einen Auswärtspunkt gegen den Abstieg ergattert.

Fazit

Für mich war der Spieltag ohne Liveticker ein Gewinn an Lebensqualität: kein Distress, weniger enttäuschte Hoffnungen, dafür mehr freie Zeit und Gelassenheit. Ein Experiment mit Erfolg, dass ich sicherlich die verbleibenden drei Spieltage fortsetzen werde. Selbstverständlich wird es erfolgsverwöhnten Bayernfan anders gehen. Für sie ist der Blick auf den Liveticker nicht mit Qualen verbunden, sondern wohl eher mit Bestätigung. Aber auch Anhänger von Clubs, die wie die Borussia aus Mönchengladbach aktuell auf einer Erfolgswelle schwimmen, können die Vorzüge einer Liveticker-Abstinenz sicher nur eingeschränkt nachvollziehen. Doch alle Fans, die im Abstiegskampf stecken und erst recht die, die mit ihrem Club schon einmal eine ähnlich lange Durststrecke wie ich aktuell bei Hannover 96 durchmachen mussten, wissen, dass Liveticker einen fertig machen können. Deshalb, öfter mal was Neues versuchen: Fußball ohne Liveticker. Macht wirklich Freude!