Pfiffe, auf die man pfeifen kann. Fans und ihr Selbstverständnis.
Hannover 96 gewinnt 2:0 gegen Greuther Fürth und bekommt den gerechten Lohn der Fans. Pfiffe. Richtig gelesen: Pfiffe. Im Fall von Jan Schlaudraff bedeutet die Reaktion des Anhangs sogar, dass eineinhalb Scorerpunkte mit individuellen Pfiffen bedacht werden. Wahnsinn? Ja, definitiv. Gerade, wenn man sich einmal vor Augen führt, was der Verein Hannover 96 in den letzten Jahren erreicht hat, und dass man scheinbar schon von “Krise” sprechen kann, wenn ein langjähriger Zweit- und Drittligaverein Sechster in der Bundesliga ist, die Gruppe in der Europa League anführt und im Achtelfinale des DFB-Pokals steht. Aber überzogene Erwartungshaltungen geschürt durch sportlichen Erfolg sind noch nicht einmal das eigentliche Problem. Sondern vielmehr das stetig grotesker werdende Selbstverständnis sogenannter Fans. Und damit sind wohlgemerkt die Operettenzuschauer auf der Haupttribüne genauso gemeint wie die Ultras, und auch alles was dazwischen liegt und munter vor sich hinpfeift. Das ewige Rätsel: Was genau berechtigt einen Sportzuschauer dazu, Sportler bei der Ausübung ihrer Tätigkeit auszupfeifen?
Mir fällt nicht viel ein, außer wenn wir in die Kategorie Luiz Adriano ausweichen. Also wenn es um grobe Verletzung grundsätzlicher Fairness geht. Sogar wünschenswert wäre ein Auspfeifen aller Ewiggestrigen wie dem römergrüßenden Neofaschisten Paolo di Canio. Und auch die Schande von Gijon ist ein Beispiel dafür, dass sämtliche Anwesenden lautstark protestieren sollten. Aber aufgrund einer sportlichen Leistung, die innerhalb sämtlicher Anstandsregeln abläuft und nur aufgrund mangelnden Erfolgs oder aufgrund einer (auf welcher Basis auch immer) festgestellten mangelnden Qualität den zahlenden Zuschauer, treuen Fan, oder aufrichtigen Kritiker nicht zu überzeugen weiß? Ich werde es nie verstehen. Und kann nur hoffen, dass es mehr Horst Heldts gibt, die das auch mal offen zurückkritisieren.
Einmal noch zurück zu den Ultras, Stehplatzfans, oder wie auch immer die Menschen generalisiert werden, an denen sich so gerne die Rundumschläge abarbeiten. Die aber auch gerne mit Rundumschlägen aufwarten. Und genau da liegt ein Problem. Denn Fußball mag viele gesellschaftliche Schranken einreissen und unterschiedlichste Menschen im Stadionrund zusammenbringen. Er macht sie aber nicht gleich, und das gilt auch für ihre Meinung. Nehmen wir zum Beispiel das gestrige Spiel FSV Mainz 05 gegen Hannover 96. Wieder einmal wurde versucht, 12:12 Minuten lang den Support einzustellen, um gegen das Strategiepapier der DFL zu protestieren. Und wieder einmal geschah dass, was auch bei jeder Schweigeminute passiert. Nicht jeder hielt sich daran. Doch was bei einer Schweigeminute pietätlos ist, ist bei einer Aktion wie 12:12 nichts weiter als Ausdruck der eigenen Meinung. Viele Fans mögen etwas gegen die DFL-Pläne haben, und sie haben vielleicht auch einen guten Grund dafür haben. Vielleicht haben sie sogar recht, was bei der bisherigen Diskussion zum Thema Fanausschreitungen noch nicht einmal wundern würde (finale Meinung folgt nach Lektüre des Pamphlets). Doch das gibt noch lange niemandem das Recht, das normale Verhalten von anderen Fans, nämlich das Anfeuern der eigenen Mannschaft, gnadenlos niederzupfeifen. Es ist schon ein spezielles Selbstverständnis, wenn man sich der Sache, die man selber macht, so sicher ist, dass abweichendes Verhalten von anderen nicht geduldet werden kann. Um einmal die Gegenprobe zu machen: Wurde irgendeiner, der dutzendhafte Minuten schweigt, in den letzten Wochen ausgepfiffen? Richtig, keiner. Also: Positiv bleiben und immer daran denken, dass “Support” nicht das englische Wort für gellendes Pfeifkonzert ist. Und ganz ehrlich, Applaudieren macht auch viel bessere Laune.
Ich glaube, du verlangst zuviel vom auspfeiffenden Fussbalfan. Du gehst von Sensibilitaet und Moralverstaendnis aus, ja soagr von Respekt und Hoeflichkeit. Dabei ist es doch genau das fehlen dieser, warum der gemeine Fussbalfan zu einem solchen wurde. Damit er sich mal wie Schwein benehmen kann. Das ist der umgekehrte Domina-Effekt. Manager und CEOs gehen zu Dominas um sich erniedrigen zu lassen. Gemeine Fans gehen ins Stadion um zu erniedrigen. Sei es durch Leistung der eigenen Mannschaft oder durch Kundtun der Meinung. Das Stadion ist wie die City of London fast rechtsfreier, in jedem Falle aber anstand- und moralfreier Raum.
Also ich gehe mir Dir d’accord, dass immer viel zu früh gepfiffen wird, die Leute meist zu negativ sind und dass “wir wollen euch kämpfen seh’n” in den meisten Fällen ungerechtfertigt skandiert wird, weil mangendes Bemühen wirklich nur in Ausnahmefällen der Grund ist.
Aber Pfiffe als Kommentarmöglichkeit eines Zuschauers zu einer schlechten Vorstellung im Sport oder anderen Kulturbetrieb generell auszuschließen, geht mir dann doch zu weit. Ich kann den Unmut meines Sitznachbarn verstehen, wenn er den bundesligaüblichen Ticketpreis gezahlt hat, bei ungemütlichem Wetter ins Stadion gekommen ist und mir dann beim hoffnungslosen Stand von 0:3 und einer mieserablen Vorstellung der Heimmannschaft sagt: “Da freut man sich die ganze Woche auf das Spiel und dann das.” Pfiffe sind dann eine legitime Meinungsäußerung.
hmm, ich weiß einfach nicht. klar, wo es applaus und anfeuerung gibt, da muss es auch irgendwo das gegenteil geben. dennoch bin ich immer sehr befremdet, wenn gepfiffen wird. und wenn nicht die realität eher wie dein erster absatz aussehen würde, hätte ich mich auch kaum zu dem artikel bemüßigt gefühlt. letztlich liegt meine abneigung dieser form der meinungsäußerung ja vielleiht auch schlicht daran, dass ich nicht pfeifen kann 😉
@kai: harte worte, die aber für einen gewissen teil der fans (der sich meiner meinung wiederum sauber zwischen haupttribüne und fankurve aufteilt) sicherlich zutreffen.
De facto mag ich die Pfiffe auch nie und kann es ebenfalls nicht.
Ich pfeife auch auf Pfiffe. Die Meinung von Kai kann ich allerdings nicht ganz teilen. Denke, es ist eine Mischung aus weit überzogener Anspruchshaltung und ganz einfach emotionaler Enttäuschung. Der Brückenschlag, dass bei weniger Pfeifen und mehr Support wohlmöglich auch weniger Enttäuschung (=Niderlagen) entstehen, ist für die meisten Pfeifer wohl zu komplex.
Schöne Bildkombi übrigens